Die Bibliothek

9
Sep
2004

Stewart O'Nan, Halloween

The Night Country, 2003

Halloween, Tag der lebenden Leichen. Die Geister dreier toter Teenager kehren aus dem Zwischenreich zurück nach Avon, Connecticut. Vor genau einem Jahr sind sie hier gestorben: eine rasende Tour über den Highway, die Smashing Pumpkins laut aus den Boxen, ein Joint, hinter ihnen ein Polizeiwagen mit heulender Sirene. Eine scharfe Kurve. Ein Baum.

Nun sehen sie nach den Freunden, die den Unfall überlebt haben: Kyle, entstellt und debil, und Tim, völlig unverletzt, aber innerlich "längst tot". So etwas merken Geister, und sie merken auch, dass Tim etwas Schreckliches vorhat. Doch sie können es nicht verhindern, gegen den Willen der Lebenden kommen sie nicht an. So nimmt ein neues Verhängnis seinen Lauf.

[Stewart O'Nan spielt mit Versatzstücken des Gruselromans, doch auch wenn hier drei jugendliche Geister gewissermaßen als Erzählerchor auftreten, hat "Halloween" doch eine ganz andere Intention als den Leser mit blankem Horror oder mit dem "Unheimlichen" auf klassische Art zu schockieren.

Er erzählt vielmehr eine Geschichte von zerbrochenen Träumen, von den verzweifelten Versuchen mit der Schuld fertig zu werden - ein amerikanischer Kleinstadt-Alptraum der Ausweglosigkeit. Auch das kann Horror sein, wenn gleich sehr subtil.

"Halloween" berührt unangenehm und stimmt traurig, trotz der oftmals sarkastischen Bemerkungen der Geister. Ein Buch für den Herbst. Lesenswert.]
in: Die Bibliothek

5
Sep
2004

Wladimir Kaminer, Militärmusik

2001

1967 ist ein schicksalsträchtiges Jahr für die Sowjetunion: Die Oktoberrevolution liegt genau fünfzig Jahre zurück, und man rüstet überall im Land zu großen Feierlichkeiten, da erblickt ausgerechnet ein Junge das Licht der Welt, der nichts unversucht lassen wird, um die ruhmreiche Republik in ihren Grundfesten zu erschüttern.

Denn schon von Kindesbeinen an steht der junge Wladimir mit den herrschenden Verhältnissen auf Kriegsfuß; stets ist er zu allem bereit, nur nicht dazu, sich anzupassen. Bereits in der Schule erfindet er als "Offizieller Politinformator" die haarsträubendsten Tagesnachrichten und später bringt er als Praktikant beim Theater ganze Aufführungen zu Fall.

Doch das ist alles nichts gegen sein subversives Wirken beim Militär, bei dem der anarchische Taugenichts eines Tages landet. Hier wird ihm nichtsahnend das Ehrenamt des "Stellvertretenden Vergnügungsorganisators" übertragen, und dass daraufhin alles drunter und drüber geht, braucht niemanden zu verwundern.

Verwunderlich ist allenfalls, dass die Sowjetunion darüber nicht schon viel früher zerbrochen ist ...

[Wenn Kaminer seine Erzählungen beginnt, dann vergisst man darüber die Zeit und legt das Buch erst aus der Hand, wenn es wirklich sein muss.

In "Militärmusik" hat er sieben Episoden aus seiner Jugend und seinem Leben in der ehemaligen Sowjetunion zusammengestellt. Flott erzählte Geschichtchen (die der Klappentext schon recht gut beschreibt) bringen den Leser zum Schmunzeln, zum Lachen, zum Nachdenken - in jedem Fall werfen sie ein ganz neues Licht hinter den Eisernen Vorhang.

Wer Wladimir Kaminer nicht mag, ist selbst schuld. Ostalgie vom Feinsten und ein schnelles Lesevergnügen.]
in: Die Bibliothek

3
Sep
2004

Roberta Allen, Literatur in fünf Minuten

Bei literature.de habe ich vor einiger Zeit das o.g. Buch als Lesetipp gefunden und beschlossen, dass das für mein Regal im Büro eingekauft werden muss.

Selbst fehlt mir meist die Ruhe und Muße in Creative Writing tätig zu werden, aber schlussendlich ist man ja Dozentin und so ein paar Anregungen für die Stundengestaltung können nie schaden. Also wurde das Buch bei Zweitausendeins, wo es auch erschienen ist, bestellt.

Es kam denn auch zwei Tage später an: in einer Verpackung als hätte ich das aktuelle Buch von Muhammed Ali bestellt, dass ja bekanntlich sehr großformatig und schwer sein soll. Nachdem ich mich durch die diversen Schichten des Packmaterials gearbeitet hatte, konnte ich mich schlussendlich auch in einigen Tagen durch den Inhalt des Buchs arbeiten.

Roberta Allen ist selbst Künstlerin und Dozentin für Creative Writing und gibt in ihrem Buch eine praktische Einführung in das Schreiben von sogenannten "Kürzestgeschichten". Nach zahlreichen Beispielen aus der Literatur und aus ihren Kursen, einem Überblick über Erzählperspektiven und diversem "theoretischem Handwerkszeug" geht es dann an die Materie, sprich an die eigene Übung.

Laut Allen ist jeder in der Lage Kürzestprosa zu schaffen. Man nehme einen Wecker, stelle diesen auf fünf Minuten und - ohne lange Nachzudenken - schreibe man zu einem bestimmten Thema einfach drauflos. Die Gedanken fließen und der Stift fliegt von selbst, meint die Autorin. Zahlreiche Anregungen für die praktischen Übungen werden mitgeliefert. Zu einem literarischen Werk wird dieser erste Schritt vermutlich in den seltensten Fällen, dafür gibt es die Phase der Überarbeitung, in der man in aller Ruhe seinem Entwurf Stil, Aufbau und Spannungsbogen zugedeihen lässt.

Selbst habe ich bislang noch keine der über 300 Übungen ausprobiert, meine Kursteilnehmer haben zurzeit Ferien, dennoch ein lohnenswerter Kauf, der mir sicher noch in vielerlei Hinsicht zweckdienlich sein wird.
in: Die Bibliothek

In der Bücherei

[...] Lesen ist ein Abenteuer. Sie fühlt sich hier grenzenlos, umgeben von der Welt in konzentrierter Form. Allein die Bücher in der Hand zu halten genügt schon.

~ Stewart O'Nan, Halloween ~
in: Die Bibliothek

2
Sep
2004

Der geborene Erzähler

"Ich erzählte und erzählte. Der eine war begeistert, den anderen machten meine Geschichten wütend, immerhin - alle hörten aufmerksam zu. Ich wurde zum größten Spinner der Schule. Gleichzeitig entwickelte ich eine Besonderheit: die absolute Unfähigkeit, etwas Solides zu lernen. Alle Informationen, die ich mitbekam, drehte ich unwillkürlich um und machte daraus immer neue Geschichten."

~ Wladimir Kaminer, Militärmusik ~
in: Die Bibliothek

31
Aug
2004

Dai Sijie, Balzac und die kleine chinesische Schneiderin

2000, Balzac et la petite tailleuse chinoise

Der autobiografisch angehauchte Roman erzählt von zwei pfiffigen chinesischen Studenten, die es in ein gottverlassenes Bergdorf verschlagen hat. Ein Koffer voll westlicher Weltliteratur und eine entzückende Schneiderin retten ihnen das Leben.

Sie hat einen dicken schwarzen Zopf, zwei hinreißende Schühchen aus rosafarbener Seide und das zauberhafteste Lächeln, das man sich vorstellen kann: die Kleine Schneiderin aus dem abgelegenen Bergdorf, in die sich der junge Luo gleich beim ersten Anblick verliebt.
Er und sein Freund, zwei Studenten, die zur kulturellen Umerziehung hierher ans Ende der Welt verschickt wurden, merken bald, dass sie nur eine einzige Möglichkeit haben, ihre Haut zu retten: Sie müssen in den Besitz jenes wunderbaren Lederkoffers eines anderen "Zöglings" gelangen, der die verbotenen Meisterwerke der westlichen Weltliteratur enthält. Denn nur aus Balzac und Stendhal, aus Dostojewski und Dumas können sie die Lebensenergie und den Esprit schöpfen, die sie brauchen, um den Widrigkeiten ihres Daseins und der Willkür des Dorfältesten Paroli zu bieten. Und vielleicht können sie am Ende sogar das Herz der Schneiderin gewinnen.

[Ein Schatz, ein Schatz. Poetisch, romantisch, traurig, lakonisch, prall - Eigenschaftswörter, die in einigen Kritiken zu diesem bezaubernden Roman gefallen sind. Ein Buch über die Magie der Literatur, in dem einfach alles stimmt.

Es bleibt gar nicht viel dazu zu sagen: für mich eines der schönsten Bücher aus dem bisherigen Lesejahr 2004.]
in: Die Bibliothek
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pirmasenser - 13. Mär, 02:05
:-)
Freut mich :) Liebe Grüsse also aus Bottrop anner Emscher Sonja
Ischma (Gast) - 13. Mär, 01:24

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